Gizelas Geschichte - Afik Shiraz. Abinun Shmuel
viel, um mich nicht erinnern zu müssen. Ich fühlte mich, als müsse ich ersticken. Ich stand da und brachte kein Wort heraus, konnte weder reden noch schlucken. Sie waren mit den trockenen Fakten zufrieden: Bergen-Belsen, Baracke Nummer 10. Später 2008, als Shmuel, mein Sohn, mit seiner Frau die Gedenkstätte Bergen-Belsen besuchte, wandten sie sich an den Museumskoordinator, und der zeigte ihnen den Ort, wo sich die Baracke Nummer 10 befunden hatte. Nach dem Krieg war nichts stehen geblieben. Nur ein Teil der rechteckigen Grundmauer war zu sehen, teilweise mit Ziegelsteinen ergänzt, in die Gefangene Ihre Initialen geritzt hatten. Der Wald, der zum Bau des Lagers abgeholzt worden war, war zurück und hatte die Mauerreste zum Teil überwachsen. Selbst mit Shmuel hatte ich über die Jahre nicht über meine Erfahrungen während des Holocaust gesprochen. Er wusste nur, dass seine Eltern Überlebende waren, und bis dahin nicht weiter recherchiert. Selbst in der High School lernte er nur wenig aus einer Broschüre mit dem Titel „Als Schlachtschaf“ und über das Warschauer Ghetto. Er wusste nur, dass er ohne Großeltern und ohne eine große Familie aufgewachsen war. 1961 wurde der Eichmann-Prozess eröffnet, der einen großen Teil des Holocaust-Horrors enthüllte. Viele Überlebende verfolgten den Prozess, aber Leon und ich sprachen kaum darüber und unsere Freunde auch nicht. Ich wollte den Fall nicht verfolgen und die Berichterstattung weder lesen noch im Radio hören. Ich war froh, dass er zum Tode verurteilt wurde und seine Asche über das Meer verstreut worden war. Mehr wollte ich nicht mehr darüber wissen. Es war immer noch eine Zeit, in der wir versuchten, zu vergessen, und unser Leben normal fortzusetzen. Allerdings, weil mein Mann Gideon Hausner sehr ähnlich sah, hielten viele Leute, die die Straße entlang gingen, an und begrüßten ihn: „Hallo Gideon!“ und er musste ihnen dann sagen: „Ich bin nicht Gideon.“ Einige Jahre später wurde Leon krank und erhielt 1969 infolge der Kriegsjahre eine monatliche Rente als Entschädigung. Bei einer Untersuchung wurde er gebeten, eine Reihe von Fragen zu beantworten. Ich erinnere mich an eine bestimmte: „Wenn das Bild schief hängt, stört Sie das?“ Seine Antwort war: „Natürlich.“ Dann kam er nach Hause, erzählte mir davon und sagte: „Es würde mich wahrscheinlich stören und ich würde es geraderücken.“ Im Gegensatz zu Leon habe ich viele Jahre gewartet, ohne die Entschädigung zu beantragen. Kein Geld, das die Deutschen bezahlten, konnten den Verlust meiner Eltern und alles, was ich verloren hatte, kompensieren. Ich behielt diese Einstellung bis 1987, als Leon aufhörte zu arbeiten und herausfand, dass wir ohne zusätzliches Geld nicht auskommen würden. Da hatte ich keine Wahl, ich musste meine Ehre zurückstellen, meinen Kopf senken und die Entschädigung beantragen. So entwickelte sich unser Leben im neuen Land. Wir lebten sehr sparsam. Leon ging am Ende eines jeden Tages, kurz vor Schließung zum Carmel-Markt in Tel Aviv oder zum Givat Aliyah-Markt in Jaffa, um Lebensmittel zum halben Preis zu kaufen. Manchmal ging er sogar zu Fuß dorthin, um die Fahtkosten für den Bus zu sparen. Nach und nach lernten wir die neue Sprache. Wir kauften uns eine Zeitung in einfachem Hebräisch, um unseren Wortschatz zu erweitern. Wir haben zu Hause zusammen Nähenarbeiten erledigt, Leon ging raus, um Aufträge (Stoffzuschnitte) zu bekommen und die Einkäufe für zu Hause zu erledigen. Er war viel aktiver als ich. Jeden Morgen um fünf Uhr ging er zum Strand, wo er ein wenig trainierte und schwamm, und um sieben Uhr war er wieder zu Hause und begann zu arbeiten. Ich nähte Taschen und er Hosen. Wenn er mit dem Nähen fertig war, fuhr er mit dem Bus zurück um zu bügeln in der Nähe des Romano-Hauses in Tel Aviv. Wenn das Paket zu schwer war, half ihm ein Träger, die Sachen nach Hause zu bringen.
In der Freizeit hörten Leon und ich gerne israelische Lieder im Radio, denn mittlerweile verstanden wir
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